Eine Prognose ist der Versuch, aufgrund vergangener Entwicklungen und gegenwärtiger Indikatoren eine Aussage über den künftigen Verlauf der Dinge zu treffen. Methodisch basiert eine Prognose auf
wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlicher Erfahrung. Prognosen sind für medizinische Entscheidungen von großer Bedeutung: Ärzte wie Patienten und Angehörige stützen sich bei ihren
Empfehlungen und Entscheidungen zu einem beträchtlichen Maß auf die Prognose – sei es bei genetischen Untersuchungen, sei es bei onkologischen Therapien, sei es bei intensivmedizinischen
Maßnahmen.
Bei allem Fortschritt, den es gegeben hat, um Prognosen über einen Krankheitsverlauf zuverlässig zu machen, bleibt stets das Problem, den künftigen Verlauf der Dinge nicht mit Sicherheit vorhersagen
zu können. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, in einem bestimmten Krankheitsstadium innerhalb eines halben Jahres zu sterben, bei 25% liegt, so ist damit noch immer die Unsicherheit, ob der konkrete
Patient nun einer der 25 von 100 ist, die in diesem Zeitraum sterben werden, oder einer der 75, die noch länger leben werden. Wenngleich es Situationen geben mag, in der eine sehr hohe
Prognosesicherheit besteht, so würde man das eigentliche Problem verkennen um das es hier geht: Letztlich wird der Prognose immer ein gewisses Maß an Unsicherheit immanent sein. Dieser Umstand ist
für die meisten Menschen schwierig auszuhalten, v.a. dann, wenn es um existenziell wichtige Entscheidungen geht. Die bleibende Unsicherheit wirft zudem die Frage auf, wie mit ihr aus ethischer Sicht
umzugehen ist.
Um die Prognoseunsicherheit besser bewältigen zu können, sollten klinisch Tätige auf drei Aufgaben fokussieren:[1] (1.) Prognoseunsicherheit normalisieren: Medizinische Laien werden heute in den
Medien laufend damit konfrontiert, dass es in Medizin und Lebenswissenschaften „Durchbrüche“ gebe, sodass der Eindruck entsteht, es gebe definitive Antworten auf klinische Fragen. Die erste Aufgabe
bestünde darin, diese Erwartungen anzusprechen und sie zurechtzurücken. (2.) Unsicherheitsgefühle ansprechen: Die ausbleibende Gewissheit über die Zukunft führt mitunter zu starken Gefühlen und
Stress bei Patienten und An-gehörigen. Da in einer solchen Lage tendenziell schlechte Entscheidungen getroffen werden, sollten die Emotionen proaktiv angesprochen werden. (3.) Hilfe im Hier und
Jetzt: Das starke Verlangen, Gewissheit über die Prognose zu erlangen, kann die Betroffenen daran hindern, im Hier und Jetzt zu leben und die aktuellen Bedürfnisse und Chancen wahrzunehmen. Die
Aufgabe der klinisch Tätigen ist es, Patienten und Angehörige daran zu erinnern, dass sie – bei aller Unsicherheit über die Zukunft – wichtige Dinge im Hier und Jetzt tun können, die zur
Lebensqualität beitragen.
Mitunter finden sich dieselben Schwierigkeiten bei den klinisch Tätigen. Redewendungen wie „Wir brauchen mehr Zeit, um sicher zu sein“, suggerieren, dass ein Punkt kommt, an dem völlige Gewissheit
herrscht. Tatsächlich gibt es genügend Fälle, in denen beispielsweise eine vorläufige Fortsetzung der Therapie sinnvoll ist, um überhaupt genügend Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, wie erfolgreich der
Patient auf sie reagiert. Es kann jedoch auch so sein, dass zusätzliche Diagnostik und weiterführende Therapien aus Angst vorgeschoben werden, die letztlich doch eindeutig schlechte Prognose
auszusprechen und entsprechende Therapiezieländerungen zu treffen.
Aus ethischer Perspektive wirft die Problematik der Prognoseunsicherheit die Frage auf, welche moralischen Pflichten man bei der Entscheidung einzuhalten hat.[2] Die Forderung, die Entscheidung „nach
bestem Wissen und Gewissen“ zu treffen, verweist auf Tatsachenzweifel und moralische Zweifel. Hinsichtlich ersterer besteht die Pflicht, auf Basis der lege artis zu erhebenden Informationen für den
Einzelfall zu entscheiden. Dazu zählt die Auseinandersetzung mit wissenschaftlich fundierten Informationen (evidence based) und die Auseinandersetzung mit den Umständen des konkreten Falls (inklusive
dem Patientenwillen). Hinsichtlich moralischer Zweifel kann man grundsätzlich zwei Positionen einnehmen: (1.) Für den Probabilismus ist man von einer moralischen Pflicht entbunden, wenn man
begründete Zweifel an der Geltung dieser Pflicht hat. Dabei genügt es unter Umständen, wenn man eine gewichtige Autorität auf seiner Seite hat, auch wenn andere, wahrscheinlichere Gründe für die
Geltung der Pflicht sprechen. (2.) Der Tutiorismus fordert hingegen eine erreichbare Sicherheit, um sich von einer grundsätzlichen moralischen Pflicht entbinden zu können. Je gewichtiger das auf dem
Spiel stehende Gut ist, umso eher wird man einer tutioristischen Vorgehensweise bei der Entscheidungsfindung folgen müssen: Im Fall einer zur Diskussion stehenden Beendigung lebenserhaltender
Maßnahmen bei einem Patienten mit einem positiven Therapieoutcome und Rehabilitationspotenzial wird man beispielsweise nur dann die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen durchführen dürfen, wenn es
dafür einen hinreichend klaren Patientenwillen gibt. Die entsprechende tutioristische Position zeigt sich nicht zuletzt im Recht, wo für derartige Fälle eben der Grundsatz „in dubio pro vita“ gilt.
[1] Smith AK, Douglas DB, Arnold RM. Uncertainty – the other side of prognosis. N Engl J Med 2013;368(26):2448–50.
[2] Baumann K. Ethische Entscheidungskriterien und -strategien für Ärzte in unsicheren Situationen. Z med Ethik 2011;57(1)3–16.