Die Angst der Assistenzärztin vor dem OP-Saal


Erfahrungsbericht einer Assistenzärztin [1]

Als Frau Dr. Adler ihre Tätigkeit als Assistenzärztin beginnt, steht sie relativ rasch alleine im OP. Auf die Frage, wo denn der Oberarzt sei, hört sie, er sei eine rauchen. Als er dann den Saal betritt, sieht er sie finster an. Auf ihre Versuche, mit ihm zu kommunizieren, reagiert er nicht. Argwöhnisch beäugt er ihre Handgriffe, erklärt nichts und beantwortet Fragen von Dr. Adler üblicherweise mit einem Augenverdrehen und Sätzen wie: „Sie haben doch studiert, oder?“ Jeden Tag das gleiche Spiel. Dr. Adler beginnt sich zu fragen, ob sie zu empfindlich sei oder eine völlig falsche Wahrnehmung der Realität habe: Vielleicht ist sie ja doch so „unfähig“, wie ihr vom Oberarzt attestiert wird. Von ihren Kollegen erfährt sie, dass Assistentinnen schon weinend den OP verließen. Die verbliebenen Kollegen scheinen sich dem Schicksal gefügt zu haben. Dr. Adler fragt den stellvertretenden Chef um Rat und möchte wissen, ob sie sich an den Abteilungsvorstand wenden solle. „Vergessen Sie das,“ meint der um Rat Gefragte, „da müssen Sie durch!“ – Dr. Adler versucht es, aber sie verändert sich: quält sich zur Arbeit, kommt frustriert nach Hause und fragt sich: wofür?

 

Es folgt die Eskalation, ohne erkennbaren Grund. Morgens betritt Dr. Adler den OP und wird vom Oberarzt sofort in den Aufenthaltsraum zitiert. Er komme gleich, müsse mit ihr reden. „Was um Himmels Willen ist denn jetzt los?“ fragt sich Dr. Adler. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Hat sie einen Fehler gemacht, einem Patienten geschadet? Nach zehn Minuten kommt der Oberarzt, knallt die Tür zu und schreit Dr. Adler an, dass er keine Lust mehr habe, mir ihr zu arbeiten. Die Frage, was für ein Problem er mit ihr habe, kann Dr. Adler nicht zu Ende formulieren, weil er sie sofort unterbricht: „Lassen Sie das Geplapper!“ Der Oberarzt möchte, dass Dr. Adler die Abteilung wechselt. Zunächst leistet Dr. Adler noch Widerstand, doch nach einer Phase der Zermürbung kommt sie zum Schluss: „Es reicht.“ Ihre Kündigung zieht weite Kreise, Kollegen loben ihren Mut und erneut zeigt sich, wie frustriert viele sind. Paradoxerweise scharwenzelt die Oberarztriege seit diesem Zeitpunkt freundlichst um Dr. Adler herum. Beim Abteilungsvorstand lässt sie sich einen Verabschiedungstermin geben. Als sie versucht, die krassen Missstände anzusprechen, schiebt er sie mit einem Lächeln Richtung Tür und wünscht ihr einen guten Neustart.

Führungsverantwortung

Das Beispiel von Dr. Adler verweist auf das Thema der Führungsethik, welches in den letzten Jahren verstärkt untersucht wird.[2] Führung ist mit Verantwortung verbunden: Erfolgsverantwortung ist die Sorge um fachliche und wirtschaftliche Standards und Ziele. Zu ihr zählt im Rahmen eines Lehrkrankenhauses oder einer Facharztausbildung auch die Sorge, dass die Auszubildenden das fachliche Rüstzeug für ihre spätere Tätigkeit erlangen. Humanverantwortung ist die Sorge um psychosoziale Standards und Ziele. Zu ihr zählen Haltungen, Verhaltensweisen und Rahmenbedingungen, um die Arbeits- und Lebensqualität der Geführten zumindest nicht zu schädigen, eigentlich aber zu fördern. – Gerne wird in diesem Zusammenhang von Merkmalen einer guten Führung gesprochen. Aber die Erfahrung von Dr. Adler zeigt, dass sich Organisationen genauso mit dem Phänomen der schlechten Führung auseinandersetzen müssen.

Schlechte Führung

Das Urteil, wonach eine Führung schlecht sei, kann eine fachlich ausgerichtete Bewertung sein und beinhaltet dann eine Aussage, wonach ineffektiv geführt wird, weil die Führung inkompetent oder rigide ist. Mangelhafter Wille oder mangelhafte Fähigkeit zu führen sowie eine Unbeweglichkeit in Hinblick auf neue Ideen können Grund der solcherart schlechten Führung sein. Schlechte Führung kann auch eine mehr ethisch ausgerichtete Bewertung sein. Sie ist dann für die konkret Geführten schädlich (pragmatisch schlecht) oder in sich moralisch falsch (böse). Gründe hierfür können Charaktermängel wir Unbeherrschtheit, Gefühllosigkeit, Korruptheit, Engstirnigkeit oder genuine Böswilligkeit sein. Die Folgewirkungen von schlechter Führung – sei sie fachlich, pragmatisch oder moralisch schlecht – sind mannigfaltig, aber allesamt desaströs. Nicht nur verletzt schlechte Führung die Persönlichkeit der davon unmittelbar Betroffenen, sie richtet auch einen organisationalen Schaden an, der sich über steigende Fluktuation, erhöhte Personalausfälle, sinkende Mitarbeiterzufriedenheit letztlich auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens auswirkt.

Das toxische Dreieck schlechter Führung

Schlechte Führung[3] wird von drei Komponenten – dem „toxischen Dreieck“[4] – beeinflusst: (1.) Destruktive Führer zeichnen sich durch ein starkes Bedürfnis nach personaler Macht aus, sind in der Regel stark narzisstisch geprägt und trachten danach, ausgemachte Rivalen nicht wachsen zu lassen. (2.) Schlechte Führung kann nur dort bestehen, wo beeinflussbare Geführte dies zulassen. Meistens handelt es sich in schlechten Führungssettings um passive Mitläufer, die ducken und höchstens im geschützten Rahmen ihr Leid klagen. Manchmal wird schlechte Führung durch aktive Zuträger („acolytes“) gefördert, die durch Ehrgeiz, Egoismus und Gier mit einem destruktiven Führer konspirieren. (3.) Schließlich kann schlechte Führung dort besonders gedeihen, wo sie ein begünstigendes Umfeld findet. Eine insgesamt instabile (Unternehmens- oder Abteilungs-)Situation, wahrgenommene Bedrohungen (gegen die eine „starke Führung“ schützen soll), bestimmte kulturelle Werte (z.B. unkritischer Gehorsam) sowie schwache Kontrollinstanzen (checks & balances) sind Umfeldfaktoren, die schlechte Führung begünstigen.

Ethikbewusste Führung

Um Situationen wie jene von Dr. Adler zu vermeiden, ist eine ethikbewusste Führung notwendig. In positiver Entsprechung zum toxischen Dreieck muss dafür an guten Führern, guten Geführten und einem guten Umfeld gearbeitet werden. Im Fall von Dr. Adler darf zum einen das Verhalten des Oberarztes nicht folgenlos für ihn bleiben; zum anderen müssen die verantwortlichen Führungskräfte von Dr. Adler, der Abteilungsvorstand bzw. sein Stellvertreter, mit der Humanverantwortung ihrer Führungsaufgabe konfrontiert werden. Die Kollegen der Assistenzärztin, die dem Treiben passiv zugesehen oder es gar begünstigt haben, müssen sich mit ihrer Mitverantwortung für gute Führung auseinandersetzen und können sich nicht bloß auf die Person des destruktiven Oberarztes oder untätigen Abteilungsvorstands ausreden. Die Krankenhausleitung wiederum gibt den Ton an und trägt die Verantwortung für die Gestaltung des Umfelds, in dem schlechte Führung begünstigt oder eingedämmt wird.

Referenzen

[1] NN. Der Feind in meinem OP. Dtsch Ärztebl 2009;106(14):A681–682.

[2] Kuhn T, Weibler J. Führungsethik in Organisationen. Stuttgart: Kohlhammer; 2012.

[3] Kellerman B. Bad Leadership: What it is, how it happens, why it matters. Boston, MA: Harvard Business Review Press; 2004. ∙ Tepper BJ. Abusive supervision in work organizations: Review, synthesis, and research Agenda. J Manage. 2007;33(3):261–289.

[4] Padilla A, Hogan R, Kaiser RB. The toxic triangle: Destructive leaders, susceptible followers, and conducive environments. Leadersh Q. 2007;18(3):176–194.