Ethisch und rechtlich klar, emotional ein Problem
Die Entscheidung, einen Patienten sterben zu lassen, weil er weiterführende Therapien ablehnt oder weil weitere Interventionen nicht mehr indiziert sind, ist in vielen Fällen komplexer, als sich Laien mitunter vorstellen können. Hierbei stellt sich die Frage, welche Behandlungsmaßnahmen fortgesetzt, auf welche verzichtet und welche beendet werden sollen. Auch wenn es ethisch wie rechtlich klar ist, dass ein primärer Verzicht (engl. withholding, z.B. Verzicht auf Reanimationsversuche = „Do Not Resuscitate, DNR“) denselben Rechtfertigungskriterien unterliegt wie eine sekundäre Beendigung (engl. withdrawing, z.B. Stopp einer maschinellen Beatmung), wird Letzteres von vielen Menschen als emotional problematischer gesehen.[1]
Nicht-Eskalieren („Do Not Escalate“, DNE) als Mittelweg
In der Praxis lässt sich daher regelmäßig folgendes Vorgehen beobachten: Eine bereits begonnene Behandlungsmaßnahme wird im Rahmen einer Therapiezieländerung („Patient darf auch sterben“) nicht beendet, wohl aber nicht gesteigert, wenn sich der Patient weiter verschlechtern sollte. Beispiele hierfür sind: Fortsetzung der Katecholamingabe ohne Dosissteigerung; Fortsetzung der maschinellen Beatmung ohne Intensivierung; Fortsetzung der Antibiose ohne Umstieg auf ein stärkeres Antibiotikum. Die Ratio dahinter kann wie folgt beschrieben werden: Der betroffene Patient steht auf der Kippe zum Tod. Bisherige Therapiemaßnahmen haben mehr schlecht als recht eine nachhaltige Verbesserung erzielt. Sie zu beenden ist einerseits emotional zu schwierig. Die Therapie weiter zu steigern ist andererseits nicht indiziert. Also gibt man dem Organismus des Patienten gleichsam noch einmal die (geringe) Chance, sich mit dem gegebenen Therapielevel zu erholen.
Empirische Untersuchung zur DNE-Praxis
Morgan et al.[2] haben in einer Studie die DNE-Praxis über Krankengeschichten analysiert. Von 310 ICU-Patienten wiesen 95 (30%) eine DNE-Entscheidung auf (Patienten mit einer reinen DNR-Entscheidung wurden nicht berücksichtigt). Die Krankengeschichten zeigten, dass Hämofiltration, Katecholamine/Vasopressoren und Blutprodukte eher begrenzt wurden als mechanische Beatmung, parenterale Ernährung oder intravenöse Flüssigkeitsgaben. Solchen DNE-Entscheidungen gingen oftmals DNR-Entscheidungen voraus – eine Logik, die für medizinische Laien, die den Outcome einer „Wiederbelebung“ in der Regel überschätzen, oft schwer verständlich ist und daher erklärt werden muss. Die durchschnittliche Zeit von der DNE-Entscheidung zum Tod betrug nur 0,8 Tage (Bandbreite 0 bis 5 Tage), was wohl auf einen sehr instabilen Zustand der Patienten schließen lässt.
Do Not Escalate ≠ Do Not Care
Die Studienautoren halten fest, dass die DNE-Praxis ein komplexes Zusammenspiel von Therapieentscheidungen darstellt, bei denen auf einige Maßnahmen von vornherein verzichtet wird und andere fortgesetzt, aber nicht gesteigert werden. Etwas verwunderlich ist, dass die Autoren keine Belege für den Umgang mit DNE in Reviews oder Guidelines fanden. Zumindest für den deutschsprachigen Raum (der sicherlich nicht berücksichtigt wurde) erläutert eine Empfehlung der ÖGARI[3] ebendiese DNE-Praxis und bettet sie in ein Kontinuum von Entscheidungstypen bei Therapiezieländerungen ein. In der Tat stellt nämlich der Verzicht auf eine weitere Eskalation (intensiv-)medizinischer Maßnahmen einen wichtigen Baustein dar, um einen Patienten unter Beachtung des Wohltuns- bzw. Nichtschadens-Prinzips sterben zu lassen, ohne ihn schlichtweg „abzuschreiben“.
Referenzen
[1] Thompson DR. Defining an Intermediate Step in End-of-Life Therapy. Crit Care Med. 2014;42(2):465-466. • Intensivmedizinische Gesellschaften Österreichs. Konsensuspapier der Intensivmedizinischen Gesellschaften Österreichs: Empfehlungen zum Thema Therapiebegrenzung und -beendigung an Intensivstationen. Wien Klin Wochenschr. 2004 Nov;116(21-22):763-7.
[2] Morgan CK, Varas GM, Pedroza C, Almoosa KF. Defining the Practice of “No Escalation of Care” in the ICU. Crit Care Med. 2014;42(2):357-361.
[3] Multidisziplinäre Arbeitsgruppe (ARGE) Ethik in Anästhesie und Intensivmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie R, Intensivmedizin (ÖGARI). Therapiezieländerungen auf der Intensivstation - Definitionen, Entscheidungsfindung und Dokumentation. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2013;48(4):216-23.