Freiwilliger Verzicht auf Essen und Trinken bei Demenz


Sachverhalt

Bei Frau F, 82 Jahre, wurde eine beginnende Alzheimer Demenz diagnostiziert. Sie sprach mit ihrem Ehemann sehr offen über ihre Situation und machte dabei klar, dass sie nicht an den Punkt kommen wollte, an dem sie sich, ihren Mann oder andere Angehörige nicht mehr wiedererkennen könnte. Frau F lebte mit ihrem Mann selbstständig in einem kleinen Haus und hielt in den Gesprächen deutlich fest, dass sie mit einem Transfer in ein Pflegeheim nicht einverstanden sein würde. Sie wusste, dass ihre Demenz weiter fortschreiten wird.

 

Vor diesem Hintergrund beschloss Frau F, an einem von ihr bestimmten Tag freiwillig auf Essen und Trinken zu verzichten – wohl wissend, dass dies über kurz oder lang zu ihrem Tod führen wird. Sie ließ sich von ihrem Mann versprechen, dass er sie in ihrem Vorhaben unterstützen und sie an ihren Vorsatz erinnern werde, sollte sie sich nicht mehr daran erinnern.

 

Nachdem Frau F mit ihrem bewussten Verzicht auf Essen und Trinken begonnen hatte, verschlechterten sich ihre kognitiven Funktionen. Manchmal war sie ganz die Alte und fest entschlossen, ihren Weg durchzuhalten. Manchmal hatte sie keine Erinnerung mehr an ihren vergangenen Vorsatz und fragte nach Essen und Trinken. Ihr Ehemann erinnerte sie dann an den Grund, warum sie eigentlich darauf verzichtet hatte. Frau F hatte insgesamt noch so viel Willensstärke, dass sie meistens das immer wieder angebotene Essen verweigerte.[1]

 

Als sich ihr Allgemeinzustand weiter verschlechterte, rief ihr Ehemann schließlich doch die Rettung, welche Frau F ins Krankenhaus brachte. Dort wurde ihr zunächst eine parenterale Ernährung über einen zentralvenösen Zugang verabreicht. Die Vigilanz von Frau F verbesserte sich dadurch. Im Gespräch mit dem behandelnden Arzt, der zuständigen Pflegekraft und ihrem Sohn machte sie daraufhin deutlich, dass sie keine medizinisch applizierte Ernährung wollte. Ihr Mann schilderte dem Behandlungsteam den Entschluss seiner Frau, freiwillig auf Ernährung verzichten zu wollen. Nachdem der Wille von Frau F eindeutig feststand, entschloss man sich mit ihr zu einer rein palliativ ausgerichteten Behandlung.

 

Frau F wurde mit Unterstützung eines mobilen Palliativteams wieder nach Hause entlassen. Das Palliativteam und ihr Mann führten alle symtomlindernden Maßnahmen durch. Frau F aß von Zeit zu Zeit noch ein Joghurt, insgesamt schwanden aber ihre Kräfte. Etwa 2 Wochen nach der Heimkehr aus dem Krankenhaus verstarb Frau F im Schlaf.

Beurteilung

Der bewusste, freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken mit dem Ziel, dadurch zu sterben (mitunter „Sterbefasten“ genannt), ist ein in den letzten Jahren in der medizinethischen Literatur vermehrt problematisiertes Thema.[2] Grundsätzlich gilt, dass der einwilligungsfähige Mensch die rechtsethische Möglichkeit zu diesem Weg hat und alle medizinischen Interventionen, die ihn daran hindern, ablehnen darf. In solchen Fällen erstreckt sich die Beistandspflicht, die Angehörige, Sozial- und Gesundheitspersonal haben, auf palliative Maßnahmen der Sterbebegleitung, wie z.B. die Linderung von Schmerzen, Atemnot oder Mundtrockenheit. Die Person, die auf Ernährung verzichtet, kann freilich auch mit partiellen medizinischen Interventionen einverstanden sein (z.B. subkutane Flüssigkeitsgabe), für die dann ein Informed Consent besteht.

 

Problematisch werden Fälle, in denen begründete Zweifel an der Einsichts- und Urteilsfähigkeit in Hinblick auf den Verzicht bestehen. Dies kann dann der Fall sein, wenn der Patient von vornherein an einer psychiatrischen Erkrankung leidet, die sein Urteilsvermögen eintrübt. Wie im Fall von Frau F kann es sich aber auch um eine schwankende Einsichts- und Urteilsfähigkeit handeln, wie sie für den Verlauf von Demenzerkrankungen typisch ist. In solchen Fällen hat man es quasi mit zwei willensbekundenden Identitäten zu tun: einer früheren Identität, die den Entschluss, auf Ernährung zu verzichten, wohlüberlegt getroffen hat; und einer späteren Identität, die nun zu erkennen gibt, dass sie sehr wohl Essen und Trinken möchte bzw. von ihrem vorherigen Entschluss nichts mehr weiß. In dieser Situation gilt, analog zur Meinungsänderung bei Patientenverfügungen: Wenn und insoweit Patienten trotz ihres einmal vorgenommenen Verzichts Essen und Trinken möchten, haben sie hierzu jederzeit das Recht. Dies ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der Intervention einer medizinisch applizierten Ernährung über Sonde oder venösen Zugang (eine solche Intervention müsste mit dem Patienten abgeklärt werden). Vielmehr wird es sich – wie im Fall von Frau F – um den punktuellen oder vorübergehenden Wunsch nach oraler Ernährung wie einem Joghurt oder einem Glas Wein handeln. Vor dem Hintergrund des rein palliativen Therapieziels spricht einem solchen Angebot nichts entgegen.

Verzicht als Sterben-zulassen oder Suizid

Der Verzicht auf Essen und Trinken muss ethisch als individuelle Entscheidung beurteilt werden. Dieser Weg ist für die meisten Menschen emotional schwerwiegender als der Verzicht auf medizinische Interventionen (wie z.B. Hämofiltration) zur Lebensverlängerung. Der bewusste Verzicht auf Essen und Trinken kommt in gewisser Weise einem „natürlichen“ Sterben sehr nahe. Für viele macht es aber einen moralisch bedeutsamen Unterschied, ob derjenige, der sich zum Verzicht entschließt, von einer lebensbedrohlichen Grunderkrankung mit infauster Prognose betroffen ist, oder den Entschluss einfach aus Lebensüberdruss fällt. Bei ersterer Gruppe wird der Verzicht auch in vielen Hospizen und Palliativstationen akzeptiert und palliativ begleitet. Bei letzterer Gruppe wird der Verzicht hingegen von vielen Beobachtern als Suizid gesehen, mit allen damit verbundenen moralischen Beurteilungen.

 

Eine besondere Herausforderung für die ethische Differenzierung bieten jene Fälle, in denen zwar eine letztlich zum Tod verlaufende Grunderkrankung vorhanden ist (z.B. Demenz), diese aber noch nicht in ein Stadium getreten ist, das allgemein als Sterbephase gesehen wird. Die ethische Beurteilung einer solchen Situation hängt nicht von moralphilosophischen Argumenten alleine ab, sondern muss auch außermoralische, evaluative Argumente einbeziehen. Solche evaluativen Argumente ergeben sich aus der je eigenen Lebensgeschichte der betroffenen Person, d.h. aus ihren Vorstellungen von einem guten, gelungen Leben und Sterben. Diese Vorstellungen zur Sprache zu bringen, ist eine ethische Aufgabe, die jene trifft, welche eine Person begleiten, die sich zum Verzicht auf Essen und Trinken entschließt.

Referenzen

[1] Fewing R, Kirk TW. A fading decision. Hastings Cent Rep. 2014;44(3):14–6.

[2] Chabot BE, Walther C. Auswege am Lebensende: Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. München: Reinhardt; 2010. ∙ Schäfer S. Fasten als letzte Lösung. Die Zeit. 2014 Nr. 16:37–8.