Grundlagen: Wie erforsche ich die Alltagsmoral der Menschen?


Empirische Moralforschung

Das Vermögen des Menschen, moralische Urteile zu fällen und sein Handeln an moralischen Urteilen auszurichten (d.h. seine „Moralität“), ist seit geraumer Zeit nicht mehr nur Gegenstand des philosophischen Nachdenkens, sondern auch der sozialwissenschaftlichen Forschung. Insbesondere Psychologie und Verhaltensforschung gehen der Frage nach, wie sich die menschliche Moralität ausbildet und welche Konsequenzen sie

für das Handeln hat.

Die Straßenbahn als moralisches Problem

Über weite Strecken hat die sozialwissenschaftliche Forschung zur Moralität bislang mit Fallgeschichten, Tiefeninterviews und Gedankenexperimenten gearbeitet. Eines der berühmtesten derartigen Experimente ist das „Trolley-Problem“[1]. Bei diesem Gedankenexperiment werden Probanden danach gefragt, wie und warum sie sich in folgender Situation verhalten würden: Angenommen, Sie arbeiten in einem Stellwerk der Straßenbahn. Da erhalten Sie plötzlich die Meldung, dass eine Zugsgarnitur außer Kontrolle geraten ist und einen Hügel hinabrollt. Am Fuße des Hügels ist eine Fußgängerzone. Wenn die Straßenbahn dort entgleist, werden sehr viele Menschen verletzt oder getötet. Sie haben die Möglichkeit, noch davor eine Weiche umzustellen, sodass die Straßenbahn auf ein Nebengleis gelenkt wird. Dort befinden sich zwei Gleisarbeiter, die nicht damit rechnen, dass ein Zug das eigentlich gesperrte Gleis befährt. Daher besteht das hohe Risiko, dass die beiden Gleisarbeiter zu Schaden kommen, wenn Sie die Weiche umstellen. – Die Probanden dieses Gedankenexperiments entscheiden sich zum Großteil für die Umstellung der Weiche und argumentieren in der Regel damit, den Schaden so zu minimieren. Das „Trolley-Problem“ kennt zahlreiche Abwandlungen. Ihnen gemeinsam ist der Versuch, die Bildung unserer moralischen Urteile zu erforschen.

Gedankenexperiment und Wirklichkeit

Die Arbeit mit Fallgeschichten und Gedankenexperimenten offenbart tatsächlich viel über die Moralität des Menschen; aber sie steht immer unter dem Vorbehalt, dass die Wirklichkeit doch viel zu komplex ist als in einem arrangierten Experiment abgebildet werden könnte. Deshalb haben sich Forscher nun überlegt, wie sich die Moralität des Alltags besser analysieren lässt[2]. Dazu statteten sie 1.252 Erwachsene mit einer Smartphone-App aus. Diese App forderte die Probanden für drei Tage dazu auf, fünfmal am Tag bestimmte Indikatoren zu beurteilen, die Rückschlüsse auf ihre Moralität erlauben sollten.

Erforschung der Alltagsmoral

Die Studie untersuchte folgende Fragestellungen: (1.) Wie oft setzen die Probanden Handlungen, die sie als moralisch oder unmoralisch beurteilen? Wie oft werden die Probanden Betroffene von Handlungen, die sie als moralisch oder unmoralisch beurteilen? Wie oft erfahren die Probanden von Handlungen in ihrer Umgebung, die sie als moralisch oder unmoralisch beurteilen? (2.) Um welche Handlungen geht es dabei? (3.) Gibt es Hinweise

darauf, dass die Religiosität der Probanden einen Unterschied macht, wie ihre Moralität aussieht? Gibt es Hinweise darauf, dass die Weltanschauung der Probanden (konservativ/liberal) einen Unterschied macht, wie ihre Moralität aussieht? (4.) Wie sieht der Zusammenhang zwischen Moralität, momentanem Glückgefühl und Lebenssinn aus? (5.) Gibt es einen „ansteckenden“ Effekt der Moralität?

Ergebnisse

Die Probanden erfuhren häufiger über unmoralische Handlungen in ihrer Umgebung als über moralische. Dieser Befund deckt sich mit allgemeineren Annahmen über die Effekte von Tratsch und Reputation. Die Weltanschauung spielte eine Rolle bei den Klassifizierungen von Handlungen: Probanden mit einer liberalen Haltung berichteten häufiger über moralisch relevante Handlungen, die sie Kategorien wie Fairness/Unfairness, Freiheit/Unterdrückung, Ehrlichkeit/Unehrlichkeit zuordneten. Probanden mit einer konservativen Haltung berichteten dagegen häufiger über moralisch relevante Handlungen, die sie Kategorien wie Loyalität/Illoyalität, Autorität/Subversion, Würde/Entwürdigung zuordneten. Die Religiosität der Probanden hatte keinen Einfluss darauf, wie oft die Probanden eine von ihnen getätigte Handlung als moralisch beurteilten. Religiöse Probanden wiesen aber bei unmoralischen Handlungen öfters Gefühle wie Schuld, Scham und Abscheu auf, bei moralischen Handlungen öfters Stolz und Dankbarkeit als Probanden, die sich als nicht religiös bezeichneten. Zwischen Handlungen, die von den Probanden als moralisch bewertet wurden, und ihrem momentanen Glücksgefühl sowie Lebenssinn bestand ein positiver Zusammenhang. Wer von den Probanden selbst Betroffener einer aus seiner Sicht moralischen Handlung wurde, der wies eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, selbst eine (aus seiner Sicht) moralische Handlung zu setzen.

Deskriptiv, nicht normativ

Wie in der Darstellung der Studie deutlich wurde, ging es nicht um eine inhaltliche Bewertung der Kriterien, die einen Probanden dazu veranlasste, eine Handlung als mehr oder weniger moralisch bzw. unmoralisch zu beurteilen. Die vorliegende Studie verfolgt – wie all die anderen moralpsychologischen Untersuchungen – keine normative Ethik (d.h. keinen

Begründungsversuch, warum etwas moralisch oder unmoralisch ist), sondern eine empirische, deskriptive Ethik. Ihr geht es primär darum, tatsächlich vorhandene Phänomene wie jenes der Moralität des Menschen besser zu verstehen. Dies ist hilfreich, z.B. um Menschen moralisch nicht zu überfordern, um nicht zu moralisieren oder ideologische Welt- und Menschenbilder zu propagieren. Die kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit den moralischen Urteilen, die wir alltäglich fällen, wird dadurch aber nicht obsolet.

Referenzen

[1] Greene JD. Moral tribes: Emotion, reason, and the gap between Us and Them. New York, NY: Penguin Press; 2013.

[2] Hofmann W et al. Morality in everyday life. Science. 2014;345(6202):1340-3 DOI 10.1126/science.1251560.