Intimsphäre und Lebensqualität
Die Intimsphäre zählt zum Kernbereich privater Lebensgestaltung, die in
unserer Gesellschaft einen hohen moralischen (und rechtlichen) Schutz genießt. Eine qualitative Studie[1] untersuchte, wie die Intimsphäre von Menschen in Langzeitpflegeeinrichtungen wahrgenommen wird.
Körpernahe Bereiche der Intimsphäre
In der Untersuchung kristallisierten sich zwei körpernahe Bereiche der Intimsphäre heraus: Toilettengang und Körperpflege.
Beim Toilettengang sahen die Bewohnerinnen ihre Intimsphäre besonders dort berührt, wo sie von der Unterstützung von Pflegepersonen abhängig waren („…dass man nicht alleine zur Toilette gehen kann…“). Darüber hinaus stellten Fälle von Inkontinenz eine zusätzliche Belastung dar; Bewohnerinnen schilderten, dass sie mitunter aufwendige Strategien des Stigma-Managements betreiben (z.B. Trinkmengenreduktion, Nichtteilnahme an Ausflügen). Die Bewohnerinnen sahen ihre Intimsphäre durch Scham- oder Schuldgefühle besonders dort berührt, wo sie (tatsächliche oder vermeintliche) Reaktionen der Ablehnung durch Pflegepersonen wahrgenommen hatten.
Bei der Körperpflege wurde von den Bewohnerinnen die Mitsprachemöglichkeit bei der Festlegung des Zeitpunkts als
wichtiger Punkt zur Wahrung der Intimsphäre gesehen. Wo es hingegen zu einer plötzlichen, unabgesprochenen Körperpflegehandlung kam, wirkte der Eingriff in die Intimsphäre invasiver.
Körperferne Bereiche der Intimsphäre
Die Studie identifizierte zwei weitere, körperferne, Bereiche der
Intimsphäre: das Essen und den Privatraum.
Beim Essen beurteilten die Bewohnerinnen ihre Intimsphäre besonders dort berührt, wo andere Bewohner in unangebrachter Weise am Essen teilnahmen (z.B. nur im Nachthemd bekleidet).
Der Privatraum zählt ebenfalls zu den traditionellen Ausdrucksformen der Intimsphäre. Wenn im Pflegeheim Mitbewohner unaufgefordert das Zimmer betraten, werteten die interviewten Studienteilnehmerinnen dies als Verletzung ihrer Intimsphäre.
Fazit für die Praxis
Die Studienautorinnen fanden heraus, dass viele der Befragten davor
zurückschrecken, ihre wahrgenommenen Verletzungen der Intimsphäre zur Sprache zu bringen. Die Autorinnen empfehlen daher einen offenen und einfühlsamen Umgang mit diesen schambesetzten Themen seitens des Pflegepersonals. Dafür ist eine solide Beziehungsqualität zwischen Pflegenden und Bewohnern notwendig. Hierzu zählt nicht zuletzt eine Auseinandersetzung des Personals mit den eigenen Schamgrenzen und Gefühlen wie Ekel. Eine wichtige Praxiserkenntnis der Studie ist: Wo Bewohnern die Möglichkeit der Mitsprache und (Teil-)Selbstständigkeit gegeben wird, reduziert sich die Gefahr von Verletzungen der Intimsphäre.
Referenzen
[1] Behr A et al. Die Intimsphäre: Eine wichtige Dimension der Lebensqualität von Pflegeheimbewohnern. Z Gerontol Geriatrie. 2013;46(7):639-44 DOI 10.1007/s00391-012-0464-6.